
Mein Besuch in einer anderen Welt
“Was fange ich nur mit meinem Leben an?”, diese Frage stellt sich jedem Fast-Abiturienten früher oder später. Dem Himmel sei Dank, dass die Uni Leipzig – und andere Hochschulen dieser Stadt – jedes Jahr einen Tag lang ihre Türen öffnet und den planlosen Schülern die Möglichkeit eröffnet, an Vorlesungen und Seminaren teilzunehmen.
Auch ich habe mich in diesem Jahr auf den Weg gemacht – und zwar schon um 6:50, denn die Mathematik-Vorlesung meiner Wahl begann leider schon in aller Herrgottsfrühe. Meine Sorge, dass ich unter den ganzen eifrigen – und vor allem voll im Stoff stehenden – Studenten die einzige “Andere” wäre, weil diese Zeit für einen eigentlich freien Tag schon ein bisschen wahnsinnig ist, stellte sich auch als unbegründet heraus. Der Hörsaal war rappelvoll und ich konnte mich einfach in eine Reihe ähnlich desorientierter Leipziger Schüler setzen. Als der Dozent das Thema an die Tafel schrieb, war ich erstmal erleichtert. Integrale, das hatte ich immerhin schon mal gehört. Nach seinem zweiten Satz bin ich dann vollkommen ausgestiegen. Was bitte wollte dieser Typ von mir mit seinen Epsilons und Qs und Deltas? Als er dann auch noch anfing mir zu erklären, dass es ja vollkommen klar sei, dass Quader nicht zu zerteilen wären, hatte ich auf einmal das dringende Bedürfnis, nach Hause zu fahren und ein Stück Butter zu vierteln, um micht zu überzeugen, dass ich nicht in einem Paralleluniversum gelandet war.
Als ich nach 90 Minuten wieder in die echte Welt zurückkehrte, musste ich leider feststellen, dass ich aufgrund sehr hohen Andrangs im Fachbereich Englisch meinen Zeitplan etwas abwandeln musste. Ich weiß nicht genau wie, aber irgendwie landete ich auf meiner Suche nach einer Programmtafel auf einmal im Audimax. Der Saal war brechend voll und ich wurde geblendet von zwei absolut identischen, an die absurd breite Wand geworfene Folien zum Thema “Geschichte des Leistungsprinzips an Schulen”. Besser als nichts. Während ich den Ausführungen der Professorin lauschte und mich fragte, wann die Verfasser der von ihr genutzten Quelltexte bitte schön das letzte Mal eine Schule von innen gesehen hatten, konnte ich ganz klar drei Typen Student festmachen: Typ A, der eifrig mitschreibt, Typ B, der zwar den Laptop aufgeklappt hat und konzentriert auf den Bildschirm schaut, sich aber doch eher mit einer älteren Folge Grey’s Anatomy auseinanderzusetzen scheint als mit dem Inhalt der Vorlesung und Typ C, zwar körperlich anwesend und prinzipiell engagiert – aber doch eben eher, was die Aufzeichnungen der letzten Biologie-Vorlesung angeht, als “Grundlagen der Schulpädagogik” betreffend. Wenn das unsere Lehrer von morgen sind, na dann Hallelujah.
Mein letzter Weg führte mich dann in die Ritterstraße, zum Institut für Theaterwissenschaften. Fünf Minuten Fußweg, die mich von automatisch hoch und runter fahrenden Tafeln, überdimensionierten Powerpoint-Präsentationen und ans Jackett geklemmten Mikros zu abgeblätterten Wänden und akutem Platzmangel brachten. Der Hörsaal, ungefähr so groß wie ein normales Klassenzimmer, war leer, bis auf einen Stapel blauer Stühle an der hinteren Wand und einem kleinen Pult vorne. Jeder, der in den Raum kam, musste sich einen Stuhl mitnehmen und langsam entstanden so etwas wie Stuhlreihen. Mein Mitleid galt in dem Augenblick den über 60 Bachelor-Studenten, die als letzte kamen, ganz hinten saßen und ihre Blöcke auf den Knien ablegen mussten – und vor allem, weil sie tagein tagaus, in einem kaum abdunkelbaren Raum auf das Bild eines Beamers blickten, der aller zehn Minuten ausging. Da soll mal noch einer sagen, dass für die Kunst und die Beschäftigung mit dieser zu viel Geld rausgeschmissen werde.
Gelernt habe ich an diesem Tag drei Dinge: das Thema “Berufswahl” ist definitiv nicht an einemTag abzuhaken, die meisten Studenten tanzen entgegen der generellen Meinung tatsächlich in der Uni an – und, dass dieser Tag trotz aller Absurditäten keine verschwendete Zeit war.

