Apropos
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Wer sind wir eigentlich?

Frage: Was macht den modernen Menschen aus?

Antwort: Die Fähigkeit zum abstrakten Denken, damit einhergehend eine komplexe Sprache, sowie das Schaffen von Objekten, die rein symbolischen und keinen funktionellen Wert haben, Kunst eben.

Nur dass das offensichtlich gar nicht stimmt. Jahrelang ging man davon aus, dass die Entstehung einer “symbolisch-materiellen Kultur” – also Höhlenmalereien – den Unterschied zwischen dem wohl eher primitiven Neandertaler und modernen Menschen bildet. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie wiederlegt dies aber: man untersuchte Höhlenmalereien in Spanien und Portugal auf ihr Alter und stellte fest, dass diese vor etwa 64000 Jahren entstanden – und damit lange bevor der Homo sapiens sapiens nach Europa kam. Auch zu Schmuck verarbeitete Muscheln ließ sich eindeutig dem Neandertaler zuschreiben.

Was bedeutet das jetzt? Offensichtlich war der Neandertaler in seiner kulturellen Entwicklung schon viel weiter fortgeschritten, als man bisher annahm – und war damit wohl auch kognitiv weitaus fähiger als gedacht. Malerei, das Schaffen von Schönem, einfach nur um der Schönheit willen, zeugt von einem ausgeprägten Abstraktionsvermögen der “Urmenschen”, aber auch von der Fähigkeit zum Genuss. Die Höhlenmalereien entstanden außerdem nicht einfach nur zufällig, einfach mal so, aus einer Laune heraus, sondern über viele tausend Jahre hinweg. Eine Weitergabe der Werte von Kunst legt nahe, dass die Neandertaler durchaus zu einer komplexen Sprache fähig waren – eine Erkenntnis, die absolut revolutionär ist.

Der Neandertaler war also gar nicht so anders als wir. Tatsächlich würde er in einer modernen Gesellschaft wahrscheinlich nur durch etwas ungewöhnliche Proportionen auffallen. Daraus lässt sich nun aber noch ein weiterer interessanter Schluss ziehen: die Entwicklungslinien von Neandertaler und Homo sapiens trennten sich bereits vor 500000 Jahren, lange bevor man bei beiden Nachweise für moderne Kultur und komplexe Sprache fand. Die Antwort auf die Frage, wann und wo und wie wir eigentlich sprechen gelernt haben, lässt sich also wahrscheinlich nicht mehr in unserer ganz eigenen Entwicklungslinie finden, sondern vielmehr beim gemeinsamen Vorfahren von uns und den Neandertalern – dem Homo erectus. Und die Antwort auf die Frage, was den modernen Menschen ausmacht, tja, die gilt es jetzt wohl wieder zu finden.

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